Tingo Maria, Peru: Villa Jennifer
“Ein Stück Paradies” – was der Reiseführer über die “Villa Jennifer” schreibt, klingt verheißungsvoll. Also machen wir uns auf den Weg nach Tingo Maria, um neben schöner Landschaft einen Ort zum Entspannen zu finden.
Zehn Busfahrt sind es von La Merced nach Tingo Maria. Kein Katzensprung, aber auch nicht weit für peruanische Verhältnisse. Da der einzige Bus abends um halb zehn abfährt, haben wir keine Alternative zur ungeliebten Nachtfahrt. Um unsere Chancen zu erhöhen, schlafen zu können, nehmen wir die teureren Fahrkarten für 70 Sol (rund 18 Euro). Am Montagabend (7. Juli) sitzen wir in den fast schwarzen Kunstledersesseln des Busses von “Turismo Central”, die man zwar nicht ganz zur flachen Liege, aber sehr weit herunterklappen kann. Das hilft uns, doch ein paar Stunden während der nächtlichen Fahrt zu schlafen.
Am Dienstagmorgen so gegen neun fährt der Bus etwas verspätet in Tingo Maria ein. Auf den letzten Kilometern, die wir im Hellen unterwegs waren, konnten wir uns schon über die prächtige grüne Berglandschaft und die üppigen Fruchtstände in den Bananen- und Orangenplantagen freuen. Da es noch etwas zu früh ist, um bei der “Villa Jennifer” vor der Tür zu stehen, gehen wir erstmal ins nächstbeste Café zum Frühstücken. Anschließend halten wir Ausschau nach einem Mopedtaxi, das uns zur Unterkunft bringt. Die “Villa Jennifer” liegt rund drei Kilometer vom Zentrum Tingo Marias entfernt, nicht weit den letzten Häusern der Stadt.
Villa Jennifer
Schon als wir am Tor stehen, erkennen wir: Den im Reiseführer genannten “großzügigen Garten” gibt es wirklich. Eine junge Hausangestellte führt uns zu unserer Bungalowhälfte. Dort beziehen wir ein großes, hübsch eingerichtetes Zimmer. Was noch besser ist: Die ganze Dachfläche nimmt eine Terasse ein, und da die andere Bungalowhälfte nicht belegt ist, haben wir die Terasse für uns allein. Von dort blicken wir in den gepflegten Garten mit Bananenstauden, Orchideen und anderen hübschen Gewächsen. Hinten schließt sich ein dschungelartige Bepflanzung an, aus der wir die aus Manu vertrauten Vogellaute hören. Ein großer und ein kleiner Swimming-Pool und ein Restaurant komplettieren das Wohlfühl-Ambiente. Wir sind uns einig: Das ist genau das, was wir gesucht haben für ein paar Tage Urlaub vom Reisen. Vor der letzten Etappe mit Lima, den Iguazu-Fällen und Buenos Aires.
Beim Mittagessen lernen wir auch den Herrn des Hauses kennen. Erlan stammt aus Dänemark, ist hünenhaft groß und so ungefähr in unserem Alter. Zusammen mit seiner peruanischen Frau Graciela, die wir später kennenlernen, betreibt er die “Villa Jennifer” seit 26 Jahren. Benannt ist die Anlage nach ihrer Tochter, die in Dänemark einen guten Job im Sozialministerium hat, erfahren wir. Daniele, der Sohn, den ich zunächst peinlicherweise für einen Hausangestellten gehalten habe, hilft seit ein paar Monaten mit. Auch er lebte bisher in Dänemark. “Vielleicht”, sagt Graciela, “wird er die ‘Villa Jennifer’ später übernehmen.”
Den Dienstagnachmittag und -abend verbringen wir lesend, schreibend und dösend auf der Dachterasse. Viele Gäste hat die Villa Jennifer zur Zeit offenbar nicht. Beim Abendessen lernen wir noch zwei jüngere Frauen kennen, eine davon aus Spanien, die im Auftrag der Regierung mit einem (wissenschaftlichen) Projekt in den umliegenden Dörfern betraut sind. Genau hab’ ich es, ehrlich gesagt, nicht verstanden.
Tingo Maria
Nach – endlich mal wieder – einer ruhigen Nacht schauen wir uns am Mittwoch Tingo Maria an. Obwohl wir schon etwas außerhalb der Stadtgrenzen wohnen, ist es keine Schwierigkeit, ein Mopedtaxi zu bekommen. Keine Minute stehen wir an der Straße, bis eines der Knatterdinger vorbeikommt und uns für sieben Sol (knapp zwei Euro) bis zur Markthalle im Zentrum bringt. Hier sind wir gleich mitten im größten Trubel. Obwohl wir ja inzwischen über etliche Märkte gegangen sind, fasziniert uns das bunte Treiben stets aufs Neue: sorgsam zu Türmen aufgeschichtetes Obst, Kartoffeln, mal länglich, mal eher rund, mit brauner bis roter Schale, Reis und Hülsenfrüchte in offenen Säcken, Fleisch in blutigen Pfützen, das einen schnell wieder wegriechen lässt, einst glibberige Fischkörper zu Trockenfisch erstarrt und daneben gleich die Vitrine mit Torten, die der reichliche Einsatz zu Lebensmittelfarbe zu Objekten gemacht hat, die scheinen, als seien sie nicht vom Konditor, sondern vom Popart-Künstler gemacht. Und im ersten Stock dann alles andere vom Handy bis zum Hosenknopf, vom Rock bis zur Raubkopie. Welche noch so aufgemotzte Shopping-Mall bei uns bietet so ein sinnliches Einkaufserlebnis!? Würden die Märkte einst durch moderne Supermärkte ersetzt, wäre auch das soziale Leben in Südamerika um vieles ärmer.
Sicherheitsgefühl
Tingo Maria, erst 1938 gegründet, hat rund 60.000 Einwohner. Glaubt man dem Reiseführer, so ist das rasche Wachstum der Stadt nicht zuletzt dem Geld zu verdanken, das der Coca-Anbau ringsum einbringt. Zugespitz formuliert: Wenn in einem Berliner Werbebüro einer eine Nase zieht, dann kann sich in Tango Maria einer das marode Dach decken lassen oder ein Smartphone kaufen – oder auch nur Spielzeug für die acht Kinder. Als “Tor zu den Dogenanbaugebieten” (Loose-Reiseführer) gilt Tingo Maria manchen als unsicher. Wir merken davon allerdings nichts. Überhaupt fühlen wir uns in Südamerika erstaunlicherweise recht sicher. Klar, wir passen etwas mehr auf unsere Wertsachen auf als anderswo. Wir sind aber bisher nie Leuten begegnet, die aggressiv auftraten oder erkennbar auf unsere Brieftasche aus waren. Nicht einmal rabaukenhafte Jugendliche haben wir erlebt. Das wäre in manchen Gegenden Hamburgs anders. Das soll kein Kleinreden der Kriminalität in Südamerika sein. Dazu sind die Sicherheitskräfte zu zahlreich und die Leute, die uns warnen, die Kamera doch lieber im Rucksack zu verstauen oder eine bestimmte Straße zu meiden. Wahrscheinlich ist letzteres das Wichtigste, um sicher zu gehen.
Schöne Bauten braucht man in Tingo Maria nicht zu suchen. Es ist ja alles erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten schnell hochgezogen worden, und die Häuser drücken eher die Tüchtigkeit der Maurer aus als den Gestaltungswillen von Architekten. Nicht einmal die Kirche am Hauptplatz macht eine Ausnahme: zwei ungleich hohe Türme, einer mit einer Marienfigur, einer mit einem Kreuz, dazwischen eine recht niedrige Halle mit Satteldach und übergroßem Eingang. Welcher Teufel hat den Architekten geritten, der Stadt ein solches Gotteshaus zu bescheren?! Auch das Fußballtor auf dem Platz davor, kann da nichts mehr verschandeln. Andere Touristen sehen wir in Tingo Maria nicht. Als wir uns auf einer Bank an der palmenbestandenen Hauptstraße etwas ausruhen, fragt uns ein junges Mädchen, ob sie uns zusammen mit ihren Freundinnen fotografieren darf. Wahrscheinlich sehe ich mit meiner Frisur inzwischen dem berühmten deutschen Politiker Anton Hofreiter ähnlich.
Mittagsmenü
Erstaunlicherweise gibt es ein vegetarisches Restaurant in Tingo Maria. Eine willkommene Abwelchselung, da wir in Südamerika fast jeden Tag Fleisch gegessen haben, was wir in Hamburg nicht tun. Auch das vegetarische Lokal bietet ein günstiges Mittagsmenü an. Für sieben Sol (weniger als zwei Euro) bekommen wir eine Suppe, Hauptgericht und als Getränk Chicha, das ich im vorigen Artikel beschrieben habe. Günstige Mittagsmenüs werden überall in Peru angeboten. Die Unterschiede zu den Preisen am Abend sind extrem. Dann wird man für ein Hauptgericht 20 bis 35 Sol los (5 bis 9 Euro). Das können sich nur recht gut verdienende Peruaner leisten. Die anderen gehen eben mittags ins Restaurant oder essen an den Ständen in der Markthalle. Unseren Minusrekord für ein Mittagsmenü stellen wir wenige Tage später in einem einfachen Lokal am Ortsrand auf: 4 Sol (gut ein Euro) für alles.
Gaumenkitzel erwarten wir in Peru schon lange nicht mehr. Eine Ausnahme ist manchmal gut zubereitetes Cheviche. Kulinarische Raffinesse bieten allenfalls einige der wenigen teuren Spitzenrestaurants in den Städten, die wir aber nicht ausprobiert haben. Ansonsten sind wir schon froh, wenn wir wenigstens herausschmecken, dass in der Küche Salz und Pfeffer zur Verfügung stand. Schon in La Merced, aber auch hier in Tingo Maria staunen wir über die Lokale mit chinesischer Küche, die es fast zahlreicher gibt als solche mit herkömmlicher peruanischer Küche. “Chifa” steht dann draußen auf den Schildern. Wie wir später lesen, haben Immigranten aus südchinesischen Provinzen in den 1920er Jahren die ersten Chifa-Restaurants in Lima gegründet. Die kamen so gut an, dass sie sich auch in anderen Landesteilen etablierten. Schon aus Ermangelung authentischer chinesischer Zutaten ist “Chifa” wohl eine Mixtur aus chinesisch und peruanisch. “Fusion” sagt man ja heutzutage gerne dazu.
Tagesausflug
Am Donnerstag (10. Juli) erkunden wir die Umgebung Tingo Marias. Wir haben über die “Villa Jennifer” einen ortskundigen Guide gebucht. Wahrscheinlich könne man jemand besorgen, der Englisch spricht, stellt uns Junior-Chef Daniele in Aussicht. Und tatsächlich steht am Morgen um neun Julio auf der Matte, der leidlich der Fremdsprache mächtig ist. Allerdings hat es zuvor fast die ganze Nacht über kräftig geregnet, und tröpfeln tut es immer noch. Deshalb hatten wir eigentlich nicht mehr damit gerechnet, dass unsere Tour stattfindet. Und wir hatten auch nicht damit gerechnet, dass unser Guide statt mit dem Auto mit einem Mopedtaxi vorfährt. Aber nun gut, dann los im offenen Gefährt trotz Regens.
Julio schlägt drei Ziele vor: die Höhle im Nationalpark Tingo Maria, wo der seltene “Fettschwalm” fliegt, den Wasserfall “Santa Carmen” und die “Laguna de los Milagros”. Wir widersprechen nicht. Bevor es richtig losgeht, muss Julio allerdings erst sein Gefährt betanken. Hier zeigt sich, dass auch er von der Hand in den Mund lebt. Er bittet uns nämlich vor der Zapfsäule, das vereinbarte Honorar gleich zu zahlen. Offenbar hätte er ohne das Geld Probleme, genug Benzin in den Tank zu füllen.
Der seltsame Fettschwalm
Julio weist uns zunächst die Bergkette im Südosten von Tingo Maria hin. Sie heißt “La Bella Durmiente” und das Profil ähnelt mit Fantasie betrachtet tatsächlich einem Frauenkörper. Vorbei an sulfathaltigen Heilquellen tuckert Julio mit uns zum “Parque National de Tingo Maria”. Im Nationalpark, der seit 1965 existiert, befindet sich nicht weit vom Eingang die Tropfsteinhöhle “Cueva de la Lechuza”. Mehr noch als die Höhle selbst, ist der “Fettschwalm” eine Attraktion, der in der Höhle lebt. Der seltsame Vogel wird von den Einheimischen “Guacharo” genannt und ist zoologisch so einzigartig, dass er eine eigene Familie bildet. Der Fettschwalm ist der einzige nachtaktive Federvieh der Welt, das Früchte frisst. Der Vogel lebt in Höhlen in Kolonien und orientiert sich dort mittels Echolot. Im Gegensatz zu Fledermäusen liegen in Laute in einem von Menschen hörbaren Frequenzbereich. Seinen Namen verdank der Fettschwalm dem Umstand, dass die Küken so mit ölhaltigen Früchten gemästet werden, dass diese das doppelte Gewicht ihre Eltern erreichen. Den Babyspeck verlieren sie erst, wenn ihre Federn wachsen. Wegen ihres Fettgehalts sind die Vögel begehrt und werden teilweise bis heute gejagt. Hier im Nationalpark dürften sie allerdings sicher sein – sogar vor unseren Blicken. Denn so richtig können wir die Vögel in der dunklen Höhle nicht erkennen. Allenfalls flattert mal ein schattenhaftes Wesen auf, das mutmaßlich ein Fettschwalm war.
Als nächstes steuert Julio den fast schon obligatorischen Wasserfall an. Der “Caterata Santa Carmen” liegt idyllisch im Wald, hat aber nichts Spektakuläres an sich. Die anschließende Fahrt zum See ist recht lang, 23 Kilometer bis zur “Laguna de los Milagros” kündigt Julio an. Zum Glück ist die Straße in hervorragenden Zustand, so dass wir selbst im Mopedtaxi kaum geschüttelt werden. Einzig die vielen Bodenschnellen nerven, die es hier wie offenbar überall in Südamerika gibt, um die Fahrer vor Ortschaften zu langsamer Geschwindigkeit zu zwingen. Die Landschaft wird allmählich flacher und neben der Straße öffnen sich weite Bananenplantagen. Wir durchfahren einige kleine Ortschaften. Was hier wie auch schon in Bolivien auffällt: So ziemlich jedes zweite Haus ist mit einer Parole verziert. Die werden offenbar mit Hilfe einer Schablone millionenfach auf die Fassaden gebracht und werben meist für einen Lokal- oder Regionalpolitiker. Man stelle sich Ähnliches mal in Deutschland vor.
Am See
Nach einer Dreiviertelstunde stellt Julio sein Gefährt bei einer befreundeten Familie ab. Der See liegt einen kurzen Fußmarsch von der Straße entfernt. Die “Laguna de los Milagros” ist malerisch eingebettet in eine grüne Hügellandschaft. Der scheint ein beliebtes Ausflugsziel zu sein, denn am Ufer gibt es einfache Restaurants, und man Holzkähne mieten, um über den See zu paddeln. Das tun auch wir. Mitten im See liegen Holzhütten, die man offenbar für Feiern mieten kann, Bar inklusive. Wir legen am gegenüberliegenden Ufer an. Ein Stück weiter steht im Wald ein riesenhafter Baum, größer als alle, die ich bisher gesehen habe einschließlich der Kauri in Neuseeland. Der Baumriese ist ein beliebtes Fotoobjekt, und auch wir zücken die Kamera. Auf dem Rückweg vom See läuft uns dann noch eine Korallenschlange über den Weg. Ein bunt geringeltes Reptil, kurz, aber ziemlich giftig. Julio ruft einen Kumpel vom nahen Seerestaurant, und der erschlägt das Tier – was uns natürlich gar nicht gefällt. Abgesehen davon, haben wir mit unserem Fahrer und Guide einen netten Tag in wunderschöner Landschaft verbracht.
So, Stadt gesehen, Landschaft gesehen – und was gibt’s sonst in Tingo Maria? Na, zum Beispiel die Dachterasse über unserem Zimmer in der Villa Jennifer. Wir sind ja in erster Linie hier, um möglichst wenig zu tun. Und so halten wir es in den folgenden Tagen auch. Mal ins Städtchen fahren, um im Laden der Kooperative Kaffee und Kakao zu kaufen. Oder wir sitzen in der Cevicheria am Ufer des Rio Huallaga und lassen uns Varianten des peruanischen Nationalgerichts schmecken. Ansonsten ist uns die Villa genug. Das Gelände ist so groß, dass wir sogar einen Abendspaziergang unternehmen können, ohne es zu verlassen. Nicht weit von unserem Haus liegen Kaimane ziemlich starr in ihrem kleinen Gehege. Wir finden diese Art Haltung nicht so prickelnd, aber das soll wohl eine der Attraktionen sein, mit dem das Ressort Gäste locken will. Die sind inzwischen auch etwas zahlreicher da als zu Beginn unseres Aufenthalts. Dieter macht sich etwas Gedanken über die Zukunft der Anlage. Zwar ist alles in Schuss, aber man merkt schon, dass 25 Jahre seit der Eröffnung vergangen sind. Auf der Minigolfanlage zum Beispiel hat sicher schon lange keiner mehr einen Schläger geschwungen. Und neben der Musikanlage im Restaurant stehen noch Musikkassetten. Immerhin hat Danielle, der Vielleicht-Chef in der Zukunft, neue Ideen: Er will künftig im Restaurant auch Pizza anbieten. Irgendwie sehe ich die Zukunft der Villa Jennifer nicht ganz rosig …
Wie auch immer: Wir haben den Aufenthalt genossen und uns gut erholt vor der letzten Etappe der Reise. Die beginnt in Lima.
meine Lieblingsbilder diesmal: die Popart-Torten und der Riesenbaum. Rockopa…;-)