Nach La Paz, Bolivien: Hindernisse

Nun aber müssen wir schauen, dass wir nach La Paz kommen. In einem Stück wäre das allzu strapaziös. Deshalb schieben wir eine Übernachtung in Cochabamba ein. Die Weiterfahrt nach La Paz wird eine lehrreiche Fahrt mit Hindernissen.

Von Samaipata fährt kein Bus nach Cochabamba. Deshalb müssen wir am Sonntagmorgen (8. Juni) um sieben ein Taxi ins 15 Kilometer entfernte Mairana nehmen. In der Kleinstadt fährt morgens um acht ein Bus nach Cochabamba ab. Dieter vergisst seinen kleinen Rucksack im Taxi, den der freundliche und aufmerksame Taxifahrer aber noch rechtzeitig zurückbringt. Soweit alles gut. Der Bus, mit dem wir rund 350 Kilometer oder etwa zehn Stunden unterwegs sein werden, ist allerdings alles andere als ein Super-Luxus-Reisebus. In dem älteren Gefährt sind die Sitze so dicht hintereinander montiert, dass ich als recht kleiner Mann mit den Kniescheiben die Bewegungen des Vormannes spüre. Wir sind hier eben auf einer Strecke für “Locals” unterwegs, wie Einheimische im Traveller-Sprech genannt werden.

In die Sitze pressen sich Frauen mit Hut, bei denen unklar ist, ob ihr beträchtlicher Umfang von ihrer Leibesfülle kommt oder von der Fülle der Röcke, die sie übereinander tragen (wahrscheinlich von beidem). Dazwischen Mädchen in engen Billig-Jeans, die genauso gebannt aufs Mobiltelefon schauen wie ihre Altersgenossinnen in Aachen oder Altona, Männer in Kunstlederjacken und Jungs mit Sportjacken, auf denen “Adidas” steht. Und alle haben sie viel dabei. Die traditionell gekleideten Frauen drücken die dick gefüllten bunten Tücher, die sie auf dem Rücken getragen haben, in die wenig voluminöse Gepäckablage, wo schon meine empfindliche Gitarre liegt, oder legen sie im Mittelgang ab. Andere deponieren riesige Plastiktaschen, wo immer noch etwas freier Raum geblieben ist. Wir sehen schon, das Aussteigen wird zum Hindernislauf werden. Im Gepäckraum des Busses verschwinden nicht nur unsere Rucksäcke, sondern auch Waren aller Art, die der Bus transportiert.

Rechte Backe, linke Backe

So beschwert macht sich der Bus auf die doch eigentlich gar nicht so lange Strecke. Doch mehr als 30 bis 40 Kilometer schafft er nicht in einer Stunde. Dafür sorgen schon die bergige und kurvenreiche Strecke durch eine First-Class-Landschaft und die schlechten Straßenverhältnisse. Nach wenigen Stunden tut uns der Hintern weh. Vielmehr als das Gewicht von Backe links auf Backe rechts zu verlagern, bleibt an Bewegungsmöglichkeiten nicht. Fast wünschen wir uns als Abwechslung die Bildschirme zurück, auf denen in besseren Bussen schlechte amerikanische Actionfilme laufen. Hier gibt’s keine DVDs und keine Monitore, sondern nur das leise Schnarchen mancher Mitreisender. Abfälle werfen die Fahrgäste übrigens einfach durch das geöffnete Fenster aus dem Bus. Kein Wunder, dass die Straßenränder Müllhalden gleichen.

Mit steifen Knien stolpern wir zur Mittagspause aus dem Bus. Ich nutze die Zeit lieber zum Beine vertreten als zum Suppe schöpfen im Dorfgasthaus. Zum Glück ist in diesem Flecken grade Markt, auf dem ich ein paar Bananen und zwei gefüllte Teigtaschen kaufe. Ein etwa siebenjähriges Mädchen gibt mir das Wechselgeld zurück. Die Nachmittagsstunden im Bus werden noch quälender. Wie lange können 350 Kilometer sein? So lange muss eine Reise zum Mars dauern! Es ist schon dunkel als wir die Lichter von Cochabamba sehen, der Bus hat Verspätung. Doch damit sind wir noch nicht da. Die Vororte ziehen sich schier endlos, und immer wieder lässt der Fahrer ein paar Passagiere vorzeitig aussteigen.

Erst kurz nach sieben ist Endstation. Entgegen unseren Erwartungen stellt der Fahrer allerdings nicht am Busbahnhof Cochabambas den Motor ab, sondern irgendwo an einer belebten Kreuzung der Stadt. Wir aber wollen zum Busbahnhof, um ums dort schon die Fahrkarte für die Weiterfahrt nach La Paz zu kaufen. Mit den zwei schweren Rücksäcken, dem Handgebäck und Gitarrentasche stehen wir in der fremden Stadt und wissen nicht, wo der Busbahnhof ist. Versuche ein Taxi zu stoppen scheitern. Ein freundlicher Mensch macht uns auf einen Stadtbus aufmerksam, der zum Busterminal fährt. Wir hieven im stehenden Verkehr das Gepäck und uns hinein. Wir sind fast die einzigen Fahrgäste, während drumherum der Individualverkehr alles zum Stocken bringt. Für die vielleicht 1.000 Meter braucht der Bus 20 Minuten. Auf dem Busbahnhof herrscht Chaos, jedenfalls erscheint uns das so. Es ist kaum ein Durchkommen, und es herrscht ein Höllenlärm. Das muss ein Paradies für Diebe sein. Wir schaffen es, ein freies Fleckchen zu finden, wo wir unser Gepäck abstellen. Dieter bewacht es und Helga geht zu einem der zahlreichen Fahrkartenschalter. Nach einiger Zeit kehrt sie mit der unfrohen Botschaft zurück, dass die Fahrkarten nach La Paz nicht im voraus, sondern nur am Fahrttag verkauft werden. Wir hätten uns das mühsame Durchschlagen zum Busbahnhof also sparen können. Inzwischen ist es schon nach acht, und wir sind seit 13 Stunden unterwegs.

Nicht gebucht

Wir nehmen ein Taxi zum gebuchten Hotel. Angekommen im “Hostal Jardin”, weiß der junge Mann an der Rezeption von unserer Buchung rein gar nichts, und das Hotel ist voll. Leider haben wir die Buchungsbestätigung von booking.com nicht ausgedruckt, und das WiFi im Hotel funktioniert nicht. Es bringt nichts mit dem jungen Herrn zu diskutieren. Er nennt uns ein anderes Hotel um die Ecke. Im “Hostal Colonial” kommen wir unter. Am liebsten hätten wir uns nach all den Strapazen gleich ins Bett gelegt. Doch der Magen sagt “nein”.

In Bolivien um halb zehn abends ein “richtiges” Restaurant zu betreten und dort ausführlich essen zu wollen, ist so Erfolg versprechend wie in Clausthal-Zellerfeld. Im Gegensatz zu den Argentiniern essen die Bolivianer ähnlich früh zu Abend wie die Deutschen. In der Nähe des Hauptplatzes der 500.000-Einwohner-Stadt finden wir noch eine offene Filiale einer Hähnchenbrat-Kette mit WiFi. Während die Angestellten schon die Stühle hochstellen, gelingt es uns noch, ein Hotel in La Paz zu buchen. Das Hähnchen selbst wird bei Dieter eine tagelange intensive Liaison mit Toiletteneinrichtungen verursachen. Fast hätte ich es vergessen zu sagen: Das war nicht unser Tag.

Nach La Paz

Neuer Tag, neues Glück. Um halb neun sind wir wieder am Busbahnhof, kaufen Fahrkarten nach La Paz, Abfahrt 9:30 Uhr. Gegen 18 Uhr sollten wir da sein. Vor uns steht ein recht moderner Doppelstock-Reisebus, und wir haben das Glück, dass unsere Plätze am Treppenaufgang liegen. Hier haben wir mehr Platz für Beine und Taschen. Beste Voraussetzungen also, die nächste Etappe besser zu bewältigen als die vorige.

Von der fruchtbaren und grünen Landschaft um Cochabamba (2.500 Meter) fahren wir durch eine wilde Berglandschaft hinauf zur kargen Altiplano, der zentralen Hochebene Perus auf rund 4.000 Meter Höhe. Großes Landschaftskino im günstigen Fahrpreis (rund 11 Euro pro Person) inbegriffen. Wir lümmeln uns in die bequemen Sitze und geben zwischen dem Landschaft bestaunen manchmal kurz unserer Müdigkeit nach.

Magdalena

Bei einer Pinkelpause lernen wir Magdalena kennen. Sie spricht uns in makellosem Deutsch an. Magdalena ist die Tochter einer Bolivianerin und eines Deutschen. Ihre Mutter ist heute Leiterin der “Gesellschaft für entwicklungspolitische Zusammenarbeit” ((GeZ) in La Paz. In Köln geboren, ging sie als Vierjährige mit ihren Eltern nach Peru, wo sie auf der deutschen Schule in La Paz das Abitur machte. Danach verbrachte sie drei Jahre in Wiesbaden, um dort Soziale Arbeit zu studieren. Wieder in Peru ist sie wegen ihrer Bachelor-Arbeit, Thema: “Kinderarbeit”. Sie hat sich entschlossen, nach dem Studium in Peru Arbeit zu suchen, trotz der sehr viel schwierigeren Verhältnisse und schlechteren Bezahlung als in Deutschland.

Endlich mal jemand, den wir ohne sprachliche Barrieren zu Bolivien befragen können. Erster Anknüpfungspunkt ist ihre wissenschaftliche Arbeit. Magdalena überrascht uns mit der Aussage, dass ihre Arbeit sich im Ergebnis gegen eine zu starke Einschränkung oder gar ein Verbot der Kinderarbeit ausspricht. Sie ist auf dem Weg nach La Paz, weil dort die “Kindergewerkschaften” gegen einen Gesetzesentwurf der Regierung protestieren wollen, der vorsieht, die Altersgrenzen für Erwerbsarbeit auf 12 (mit Einwilligung der Eltern) und 14 Jahre heraufzusetzen.

Kinderarbeit

Kinderarbeit – interessantes Thema, schwieriges Thema, brisantes Thema. Der politisch korrekte Meinung in Deutschland und anderen modernen, westlichen Gesellschaften ist ja eindeutig contra. Und auch ich habe bei dem Wort reflexhaft “nein” gesagt. Magdalena argumentiert damit, dass die Erwerbsarbeit von Kindern für viele Familien eine Notwendigkeit ist, um ein auskömmliches Einkommen zu erzielen. Außerdem sei die Mitarbeit von Kindern tief in der Kultur verwurzelt. Es gäbe eine andere Vorstellung von Kindheit als in den modernen Gesellschaften des Westens. Kinder seien ab einem bestimmten Alter keine schutzbedürftigen Wesen mehr, die man vor allen Zumutungen des Lebens zu behüten habe, sondern würden als erwachsen genug betrachtet, ihren Teil zum Wohlergehen der Familie zu leisten.

Ich erinnere mich daran, dass sich auch bei uns das Konzept der Kindheit als behüteter Zeitabschnitt erst mit der Aufklärung und der bürgerlichen Familie herausgebildet hat bis hin zu mancher Übertreibung heutzutage. Erst Rousseau beschrieb die Kindheit als schützenswerte Lebensphase (“Émile”), Philippe Ariès hat “Die Geschichte der Kindheit” beschrieben. In bäuerlichen Regionen war es auch bei uns bis in die Gegenwart hinein üblich, dass Kinder mitarbeiten, genauso wie auch die Alten halfen, so weit sie es konnten. Ich erinnere mich auch an die Kinder, die wir zum Beispiel in Indonesien erlebt haben. Weitgehend unbeachtet von ihren Eltern trieben sie Dinge, die deutschen Eltern den Angstschweiß aufs iPhone tropfen lassen würden. Ich weiß auch durch meine Mitarbeit im Weltladen Ottensen, dass vielen Akteuren des Fairen Handels bewusst ist, dass so manches ihrer Produkte im Laden auch durch die helfende Hand von Kindern gegangen ist. Es gibt wohl auch bei diesem Thema kein eindeutiges Richtig und Falsch. Wichtig ist, dass Kinder in den ärmeren Ländern ihre Ausbildung nicht vernachlässigen und sich so Chancen eröffnen, nicht auf jeden Boliviano oder Sol existentiell angewiesen zu sein. Und ihre Gesundheit darf durch Arbeit nicht geschädigt werden.

Evo Morales

Magdalena hat Evo Morales und seine sozialistische Partei gewählt. Inzwischen ist sie sich unsicher, ob sie es wieder tun würde. Sie bedauert, dass die zersplitterte Opposition (Zitat: “rechte Arschlöcher”) auch keine Alternative ist. Magdalena erkennt an, dass Morales viel versucht hat, um der armen Bevölkerung, vor allem der indigenen, zu helfen. Morales’ Politik sei aber zunehmend ideologisch geworden. Dahinter stecke der eigentlich “starke Mann”, der Vizepräsident, ein “knallharter Sozialist”. Viele ausländische Unternehmen seien aus dem Land gedrängt worden. Damit sei dem Land viel Know-How verloren gegangen. Vieles funktioniere schlechter als zuvor. Zum Beispiel habe die Qualität der Internet-Versorgung nachgelassen, seit das zuständige Unternehmen in bolivianische Hand gegangen worden sei.

Präsident Morales sieht sie getrieben von Interessengruppen. Zum Beispiel verhindere die Gewerkschaft der Coca-Bauern, dass die Regierung ernsthaft gegen den Coca-Anbau zur Drogenproduktion vorgehe. Schätzungen besagten, dass nur rund 20 Prozent der Coca-Ernte in die legale Verwendung als Genussmittel gingen. Der größte Teil sei für die weit lukrativere Kokain-Produktion bestimmt. Morales, einst selbst Coca-Bauer, und seine Partei stützten sich politisch stark auf die gut organisierten Coca-Produzenten.

Keine Meinungsvielfalt

Magdalena beklagt einen zunehmenden ideologisch motivierten Anti-Amerikanismus seitens der Regierung (In diesem Zusammenhang wird mir klar, wie bescheuert es ist, bei einer Abneigung gegen die USA von “Anti-Amerikanismus” zu sprechen). Die Medien verbreiteten immer mehr die Sicht der Regierung, da sie personell von Anhängern der sozialistischen Partei dominiert seien. Unabhängiger Journalismus finde kaum noch statt. Sie und viele ihrer Freunde hörten einen evangelischen Radiosender, der als einer der ganz wenigen regierungskritische Positionen vertrete. Das Haus der Chefredakteurin werde dann schon mal von Anhängern der Regierungspartei mit Steinen beworfen.

Ein Sozialversicherungssystem mit Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung gebe es in Bolivien nicht. Die Alten bekämen eine minimale Rente, die aber zum Leben bei weitem nicht ausreiche, berichtet Magdalena. Des müssten sie von ihren Angehörigen versorgt werden.

Der Versuch, die indigene Bevölkerung zu fördern, treibe manchmal seltsame Blüten. So seien nicht nur Sprachen wie Quechua oder Aymara, die weit verbreitet seien, zu Amtssprachen erklärt worden, sondern je nach Region auch alle möglichen anderen indigenen Sprachen, die oft nur von wenigen Menschen gesprochen werden. Das mache es der Verwaltung nicht gerade einfach.

Alkohol gehöre gerade bei der indigenen Bevölkerung zum Alltag. Allabendlich werde getrunken und exzessiv an den Wochenenden. Feste dauerten mehrere Tage und arteten stets in ein Besäufnis bis zum Umfallen aus. Es sei kaum möglich, sich den Trink-Ritualen zu entziehen.

Neid und Missgunst

Magdalena sieht Bolivien als als sehr durch Neid und Missgunst getriebene Gesellschaft. Keiner gönne dem anderen etwas, jeder fühle sich gleich benachteiligt. Das gelte privat, aber auch für die gesellschaftlichen Gruppen, die ziemlich rücksichtslos ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Ans “Gemeinwohl” denke niemand. Ein Beispiel dafür seien die häufigen Straßenblockaden, für die Bolivien berühmt-berüchtigt sei. Passe einer Gruppe irgend etwas nicht, mache sie einfach eine der Hauptwege nach La Paz dicht oder lasse in La Paz den eh schon chaotischen Verkehr vollends zusammenbrechen. Vielleicht etwas weit hergeholt: Mir fällt dabei das ständige Hupen der Autofahrer ein. Stört irgendetwas die Weiterfahrt, wird sofort gehupt. Dabei lässt vielleicht nur der Fahrer davor grade seine Oma aussteigen. Keine Geduld, kein Abwägen eigener und fremder Interessen.

“Und wo bleibt das Positive?”, frage ich Magdalena, nachdem sie dieses düstere Bild von Bolivien gemalt hat. Es ist ihr ein wenig peinlich, dass sie auf diese Frage lange nachdenken muss. Sie, die sich doch für Bolivien statt Deutschland entschieden hat. “Man findet viel leichter Kontakt, viel leichter Freunde als in Deutschland”, sagt sie schließlich. Wenn man neu in eine Gruppe komme, werde man aufmerksam und herzlich aufgenommen. Jeder versuche seinen Teil dazu beizutragen, dass Neue sich von Anfang an wohl fühlten. Sicher nicht der einzige gute Zug der Bolivianer, denke ich.

Straßenblockade live

Tja, eben hatten wir noch über Straßenblockaden gesprochen. Und nun erleben wir eine. Bei Oruro haben sich Menschen quer über die Straße gestellt. Vor sich haben sie als zusätzliche Barriere große Steinbrocken auf die Fahrbahn gerollt. Vor uns stehen schon eine Reihe Autos, Lastwagen und Busse. Es ist drei Uhr nachmittags. Unser Fahrer versucht zunächst, über eine steinige Piste auszuweichen, muss aber einsehen, dass er damit nur den Bus kaputt macht. Beim Versuch, wieder auf die Fahrbahn zu kommen, setzt dann auch tatsächlich das Heck auf. Nur mit gemeinsamen Kräften gelingt es, den Bus wieder frei zu bekommen. So stehen wir also und warten.

“Manche Busse warten, bis die Blockade vorbei ist, manche drehen nach einiger Zeit um und fahren zurück”, sagt Magdalena, die Blockaden schon öfter erlebt hat. Ein Versuch, die Blockaden zu durchbrechen, sei sinnlos, denn die Blockierer seien meist äußerst gewaltbereit und hätten nicht selten Dynamit dabei. Worum es bei der Blockade geht? Das wird uns zunächst nicht klar. Irgendwann sickert durch, dass die Protestierer wohl ein Problem mit ihrem örtlichen Bürgermeister haben. “Und deshalb blockieren sie die Hauptroute nach La Paz? Was soll das?”, fragen wir erstaunt. Magdalena sagt, dass nicht selten die Blockierer selbst nicht so recht wüssten, warum sie blockieren. Diese Form des Protest sei oft zum sinnentleerten Ritual verkommen. Meist werde die Blockade abgebrochen, wenn ein TV-Team eingetroffen und man seine Parolen in Kamera und Mikrophon gerufen habe. Schluss sei meist auch mit Einbruch der Dunkelheit. denn dann werde es ungemütlich kalt und die Protestler wollten heim zum Biertrinken. Wir erinnern uns, dass auch der Inhaber des Fair-Trade-Ladens in Sucre ziemlich abfällig über die Blockierer gesprochen hatte.

So stehen wir und warten. Niemand weiß, wie es weitergeht. Oder ob der Bus vielleicht umkehrt. Dann sehen wir, dass 30 Meter vom Bus entfernt die Leute zusammenlaufen. Es stellt sich heraus, dass sich einer der Fahrgäste unseres Busses mit einem Protestler geprügelt hat. Diese Dummheit hätten wir dem recht bieder aussehenden älteren Herrn nicht zugetraut. Jedenfalls sinken mit dieser Aktion die Chancen zusätzlich, dass unser Bus bald durchgelassen wird. Zur Beruhigung trägt auch nicht bei, dass die andere Seite offenbar tatsächlich Sprengstoff bereit hält. Nach drei Stunden des Wartens entschließt sich Magdalena, den Bus zu verlassen und den Versuch zu starten, nach Cochabamba zurückzufahren. Wir schließen uns nicht an, wir wollen nach La Paz.

Endlich weiter

Eine halbe Stunde später setzt sich der Bus in Bewegung. Wir fahren in den nahen Ort zurück. Der Fahrer kurvt durch die engen Straßen, will offenbar auf eine Nebenstrecke kommen. Plötzlich tut es einen lauten Schlag. Eine niedrig hängende Stromleitung hat ein geöffnetes Dachfenster abgerissen. Zum Glück kann einer der Busangestellten das Fenster notdürftig wieder schließen. Sonst wäre es im Bus saukalt geworden. Gleich danach erreicht den Fahrer die Nachricht: Die Blockierer haben die Strecke frei gemacht. Wir fahren wieder zurück auf die Hauptstraße und können nach mehr als dreieinhalb Stunden unsere Fahrt fortsetzen.

In der Dunkelheit rollen wir Richtung La Paz, sehen die Lichter der Millionenstadt langsam größer werden. Gegen 22 Uhr erreichen wir den Busbahnhof der Stadt, der mit seiner schönen, alten Fassade eher einem Bahnhof der Eisenbahn gleicht. Bis uns dann das Taxi zum Hotel, dem “Residencia Latina”, gebracht hat, ist es viertel vor elf. Wir sind geschafft. Durch die Hindernisse auf dem Weg sind wir 13 Stunden unterwegs gewesen. Todmüde fallen wir ins Bett.

Keine Stadt zum Erholen

Die strapaziösen Busfahrten der vergangenen Tage stecken uns in den Knochen. Allerdings ist La Paz keine Stadt, die sich zum Erholen eignet. Die Stadt (mit der Schwesterstadt El Alto rund 1,8 Millionen Einwohner) ist rummelig und laut, der Verkehr absolut chaotisch. Wir merken schnell, dass wir hier keine Lust auf ein Sightseeing-Programm haben. Wir tun der Stadt damit gewiss etwas unrecht. Auch in La Paz hat einige sehenswerte Bauten, die Kirche San Francisco zum Beispiel. Auch die Plaza Murillo mit dem Parlamentsgebäude und dem Präsidentenpalast ist schön, die Märkte gewiss ein Erlebnis. Das ändert aber nichts daran, dass die Stadt nervt und man ständig aufpassen muss, nicht überfahren zu werden. Zebrastreifen zählen nicht. Das Verhältnis Autofahrer – Fußgänger zeigt das Ampelmännchen. Wird die Ampel für Fußgänger grün, dann geht das Ampelmännchen nicht, sondern es ist im Laufschritt zu sehen. In den letzten fünf Sekunden der Grünphase rennt es. Städte mit solchen Ampelmännchen haben keine Zukunft, es sei denn, sie verändern sich grundlegend.

Die Schiene los

Zunächst aber ist ein Krankenhaus-Besuch angesagt. Vor gut vier Wochen hat Dieter in Mendoza/Argentinien seine Hartplastik-Schiene bekommen. Nun ist es Zeit für eine Kontrolluntersuchung. Wir fahren zur “Clinica Alemana”, die einen guten Ruf und eine Orthopädie-Abteilung hat. Dort wird Dieters Arm geröngt. Ergebnis: Der Knochen ist gut zusammengewachsen. Der Orthopäde (der nur Spanisch spricht, die Krankenschwestern übersetzen) hält die Schiene von jetzt an für überflüssig. Soweit, so gut. Allerdings kann ich meinen Arm nur eingeschränkt bewegen, insbesondere nicht mehr vollständig drehen. Der Arzt rät zu Krankengymnastik, die ich freilich erst nach der Rückkehr nach Deutschland beginnen kann. Hoffentlich ist das nicht zu spät. Die Schiene entsorge ich in einem städtischen Abfalleimer. Schon ein komisches Gefühl, 1.700 Euro in den Müll zu werfen.

La Paz ist eine hügelige Stadt, in der man kaum einmal hundert Meter einigermaßen eben gehen kann. Bei fast 4.000 Meter über dem Meeresspiegel strengt das ganz schön an. Nur unter großem Keuchen erklimmt Dieter (Helga verzichtet) den Aussichtspunkt Kiri Kiri. Von dort aus erkennt man erst, wie wunderschön die Stadt gelegen ist. Die Innenstadt im Talkessel, ziehen sich viele Stadtteile weit die Berge hoch. Im Osten thronen in der Ferne die schneebedeckten Bergriesen Illampu und Ancohuma. Hier oben nur wenige hundert Meter von der hektischen Innenstadt entfernt herrscht Ruhe.

Ansonsten bummeln wir etwas durch die Tourismuszone um die Kirche San Francisco, wo man in unzähligen Lädchen Folkloristisches erstehen kann. Dieter geht in etliche Läden, um herauszufinden, was man für eine brauchbare Charango ausgeben muss. Das kleine Saiteninstrument ist schon für umgerechnet 30 Euro zu haben, einigermaßen gute Charangos gibt’s ab etwa 80 Euro. Dieter verkneift sich den Kauf ein weiteres Mal, weniger des Preises wegen , sondern weil er weiteren Ballast scheut. Kurz schauen wir auch am “Witches Market” vorbei, wo man allerhand Magisches erstehen kann, von Kräutermittelchen bis zu Lama-Föten. Die getrockneten Föten mauern viele Bolivianer, alles gute Katholiken, in ihr neues Haus ein, um Pachamama gnädig zu stimmen.

Eine positive Erfahrung mache ich an einem der Straßenstände, die es zu tausenden in der Stadt gibt. Es ist schon dunkel, und ich kaufe eine Süßigkeit. Aus Versehen gebe ich der Indigena statt eines 10- einen 50-Bolivianos-Schein. Ich will mich schon mit ein paar Münzen Wechselgeld zufrieden geben, da ruft sie mich zurück, macht mich auf meinen Irrtum aufmerksam und drückt mir noch ein paar Scheine in die Hand. Warum erwarte ich nicht, dass Ehrlichkeit normal ist?

Wir sehnen uns nach ein paar Tagen Ruhe. Die hoffen wir in Cocacabana zu finden. Copacabana klingt nach Rio, Strand und brasilianischem Körperkult. Doch unser Copacabana liegt am Titicacasee.

[Nachtrag: Inzwischen hat Bolivien ein Gesetz verabschiedet, das die Kinderarbeit regeln soll. Siehe SPON vom 4. Juli 2014. Interessant die zahlreichen, kontroversen Forumsbeiträge]

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2 Kommentare zu “Nach La Paz, Bolivien: Hindernisse”

  1. Nicky sagt:

    Hallo ihr Beiden, wenn ich mir die Bilder von La Paz ansehe stelle ich fest: es sieht noch genauso aus wie vor 20 Jahren als ich dort durch die Straßen streifte. :-) Selbst die Busse sehen noch so aus. Danke dafür….

    Ich wünsche Euch eine gute weiterreise….

    LG Nicky

    • Dieter sagt:

      Hallo Nicky, es freut uns sehr, dass Du noch immer den Blog verfolgst. Die Busse sind in der Tat robuste Oldtimer, die für den chaotischen Verkehr wahrscheinlich besser geeignet sind als neue Modelle. Inzwischen gibt es auch eine Seilbahn. Die ist aber so neu, dass sie noch nicht im Reiseführer steht. Haben wir auch erst beim Rausfahren aus der Stadt gesehen.
      Inzwischen sind wir in Peru an der Küste südlich von Lima. Leider schaffe ich es nicht mehr, die Einträge “zeitnah” zu veröffentlichen. Vier Wochen haben wir noch.
      Herzliche Grüße auch an Thorsten
      Helga und Dieter

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